Selbsteinschätzung Willst du nur oder kannst du es auch?

Noch nie gemacht? Werde ich aber sicherlich super machen, so wie vieles im Leben! Eine gesunde Einstellung, die aber mitunter fern der Realität gelagert ist
Foto:pedro arquero / Getty Images
Harvard Business manager: Frau Alzahawi, Sie haben sich mit Führungsambitionen befasst und konnten keinen Zusammenhang zwischen Machtstreben und tatsächlichen Führungsqualitäten feststellen. Haben Sie mit diesem Ergebnis gerechnet?
Shilaan Alzahawi: Tatsächlich haben uns unsere Forschungsergebnisse überrascht. Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gingen ja lange davon aus, dass hierarchische Gesellschaften funktional sind. Sprich, dass Gruppen automatisch denjenigen einen höheren Status zuweisen, die am meisten zum Erfolg der Allgemeinheit beitragen.
Auch die Forschung unter der Leitung von Cameron Anderson, Professor an der Haas School of Business der University of California in Berkeley, bestätigt diese Sicht: Sie ergab, dass die Menschen den eigenen Status in einer Gruppe sehr treffend einschätzen können. Sie zeigte außerdem, dass wir nur dann einen höheren Rang anstreben, wenn wir meinen, der Gemeinschaft einen Mehrwert bieten zu können. Wir erwarteten daher, dass kompetentere Menschen die größeren Führungsambitionen an den Tag legen würden.
Als wir dann aber darüber nachdachten, wie viele inkompetente Menschen an der Spitze von Unternehmen, Bildungseinrichtungen oder Nationen stehen, wurde uns klar: „Okay, vielleicht sind Führungsambitionen wirklich kein idealer Prädiktor für Kompetenz.“
Wenn Menschen ihren Positionen nicht gewachsen sind, erhalten sie dann nicht ohnehin das entsprechende Feedback?
Wir wissen seit den 60er-Jahren, dass Menschen positives Feedback überbewerten und dazu neigen, negatives Feedback zu vermeiden und zu relativieren. Darüber hinaus überbringen wir einander ungern schlechte Nachrichten, weshalb wir Dinge beschönigen. Dadurch entwickeln viele ein übersteigertes Bild ihrer Fähigkeiten – was sie zu der Überzeugung bringen könnte, sie gehörten in eine Führungsposition.
Diese Wahrnehmungsverzerrungen werden oft noch durch einen Effekt verstärkt, den wir Motivated Reasoning nennen. Das ist der Einfluss unserer Motivation auf unser Denken. Der Aufstieg in eine Führungsposition ist ja mit einer höheren Vergütung, mehr Autonomie und einem höheren Status verbunden. Allein der Wunsch nach diesen Dingen kann Menschen zu fehlerhaften Annahmen über sich selbst verleiten.
Für Ihre Studie befragten Sie Führungskräfte, die an einem Weiterbildungsprogramm an einer Eliteuniversität teilnahmen. Vielleicht waren diese Menschen einfach besonders selbstsicher?
Um eine Selektionsverzerrung zu vermeiden, führten wir eine zusätzliche Studie durch, die in Bezug auf Geschlecht, Alter, Wohnort, ethnische Zugehörigkeit und Einkommen repräsentativ für Erwachsene in den USA war. Wir fragten die Teilnehmenden nach ihrem Ehrgeiz, wobei wir eine größere Streuung erhielten als bei den Führungskräften. Dann teilten wir den Menschen nach dem Zufallsprinzip entweder eine Führungsrolle oder eine Teammitgliedschaft zu. Nach einer Simulationsaufgabe wurden die Führungskräfte von den Teammitgliedern bewertet. Auch hier stellten wir keinen Zusammenhang zwischen Ambition und Führungskompetenz fest.
Shilaan Alzahawi, Verhaltensforscherin
Dennoch werden ehrgeizige Menschen eher in Führungspositionen befördert. Woran liegt das?
In informationsarmen Situationen wie Vorstellungsgesprächen ist es schwierig, die Führungsqualitäten einer Person einzuschätzen. Gleichzeitig präsentieren sich ehrgeizige Menschen gerade in diesen Settings als motiviert, engagiert und entschlossen. Das lässt Interviewer glauben, sie seien auch effektiver. Deshalb und weil Personalverantwortliche Ambitionen als Zeichen von Kompetenz missverstehen, bevorzugen sie ehrgeizige Kandidatinnen und Kandidaten. Und noch einen Punkt dürfen wir nicht vergessen: Je ambitionierter jemand ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie sich selbst für höhere Positionen ins Spiel bringt.
Ihre Studien stützen sich auf subjektive Bewertungen, nicht auf objektive Ergebnisse. Vielleicht sind ehrgeizige Menschen einfach unbeliebter?
In unserer ergänzenden Studie haben wir die Teilnehmenden zufällig entweder mit der Leitung im Rahmen einer Entscheidungsaufgabe betraut (Einstellung eines neuen Finanzvorstands aus einer Gruppe von Finalisten) oder die Rolle eines untergeordneten Teammitglieds zugewiesen. Dann verteilten wir verschiedene Kandidateninformationen unter den einzelnen Teammitgliedern, jede Person erhielt ein anderes Teil des Puzzles. Das Szenario untersuchte, ob die Führungskräfte in der Lage waren, die anfänglich verborgenen Informationen durch eine effektive Leitung der Gruppendiskussion aufzudecken. Anhand dieses objektiveren Maßstabs fanden wir erneut starke Belege, die gegen einen Zusammenhang zwischen Ehrgeiz und Führungsqualitäten sprachen.
Wer führt, muss Opfer bringen, zum Beispiel Überstunden leisten oder die Verantwortung für Misserfolge übernehmen. Gewinnt Ehrgeiz mit der Zeit an Bedeutung, weil er Führungskräfte zum Durchhalten anspornt, während weniger ambitionierte Führungskräfte aufgeben?
Das kann sein, aber mit der Zeit erhalten Organisationen auch immer mehr Informationen über das Verhalten und die Leistung einer Führungskraft, was die Bedeutung von Ehrgeiz für den Machterhalt schmälern kann. Aber hier spekuliere ich. Das ist in der Tat ein gutes Gebiet für zukünftige Forschung. Nebenbei bemerkt: Ich komme aus den Niederlanden, wo wir Wert auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben legen. Ich würde daher Ihrer Aussage, effektive Führung brauche besonders lange Arbeitszeiten, nicht zustimmen.
Guter Punkt. Liefert Ihre Studie einen besseren Ansatz für die Auswahl von Führungskräften?
Wir empfehlen, dass Organisationen dem Faktor Ehrgeiz im Auswahlverfahren weniger Bedeutung beimessen. Stattdessen sollten sie sich auf Eigenschaften konzentrieren, die Effektivität von Führungskräften tatsächlich vorhersagen, wie Intelligenz und Geselligkeit. Sie sollten außerdem einen breiteren, repräsentativeren Pool von Bewerberinnen und Bewerbern in Betracht zu ziehen. Dazu gehört auch, Menschen mit wenig Ehrgeiz und hohem Führungspotenzial gezielt anzusprechen und für eine leitende Rolle zu begeistern.
Besteht dann nicht die Gefahr, die Leute gegen ihren Willen in Führungsrollen zu drängen?
Das wäre sicherlich nicht nachhaltig. Vielmehr denke ich an jene Menschen, die über Führungsqualitäten verfügen, denen es aber an Selbstvertrauen mangelt – oder die sich in den bestehenden Führungsvorbildern nicht wiederfinden. In Gesprächen über unsere Forschung hören wir oft von Menschen, die genau solche Personen in ihrem Umfeld kennen. Ihnen sollte man die Chance geben, ihr Potenzial zu entfalten. Ich hoffe, dass Arbeitgeber Wege finden, diese stilleren Talente gezielt zu fördern und ihr Selbstvertrauen zu stärken, sodass sie in Zukunft bereit sind, Führungspositionen anzunehmen.
© HBP 2025

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